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Thilo Wiebers (go2know)

Verwildert und verfallen – Wege zu vergessenen Orten

Es ist ein kühler aber sonniger Vormittag im Februar. Wir sind verabredet mit Thilo Wiebers. Zusammen mit Andreas Böttger organisiert er unter dem Namen „go2know“ Touren in und durch Gebiete, deren Zutritt der Öffentlichkeit sonst verwehrt wird. Gelände mit seit langem leerstehenden Gebäuden – beispielsweise verlassene Kasernen der ehemaligen Sowjetarmee – oder einstigen Heilstätten, alten Fabriken oder auch eher Kuriosem wie dem Spreepark in Berlin. Touren, die auf Fotografen zugeschnitten sind, aber auch für Menschen geeignet sind, die diese Objekte ohne Kamera entdecken wollen.

Treffpunkt ist ein Parkplatz in Wünsdorf, auf dem sich nach und nach weitere „Expeditionsteilnehmer“ versammeln. Pläne des Geländes werden verteilt, die der Orientierung dienen, kurze Informationen zu den Gebäuden liefern und Zugangsmöglichkeiten zeigen. Mit dem eigenen Fahrzeug folgen wir Thilo weit auf ein ausgedehntes Gelände. Nach einer kurzen Einführung, in der auch geschichtliche Details angesprochen werden, schwärmen die Teilnehmer aus. Wege, teils zugewachsen, führen zu den verschiedenen Bauwerken. Diese sind reichlich vorhanden und zudem groß genug, so dass sich die Teilnehmer, deren Zahl mit Blick auf ein optimales Erlebnis begrenzt ist, gut verteilen können und sich so nicht in die Quere kommen.

Bereits vor dem 1. Weltkrieg entstanden in Wünsdorf Kasernenanlagen, Fernsprech- und Telegrafenamt, Infanterieschule. In der Folge hatte die Reichswehr hier ihren Sitz. Die Kaiserliche Turnanstalt wurde zur Heeressportschule. Diverse Ergänzungen und Erweiterungen ergaben letztendlich ein riesiges Areal. Sogar Kriegsgefangene wurden an dieser Stelle untergebracht. Am 20. April 1945 übernahmen sowjetische Truppen fast kampflos das militärische Gelände. Fast ein halbes Jahrhundert später hinterließen sie eine menschenleere Garnisonsstadt voller Munitionsresten, Kampfmitteln, Schrott und Müll.

In einigen Stabsgebäuden siedelte man nach einer Restaurierung Landesbehörden an. Eine Reihe Kasernenbauten wurden zu Wohnhäusern umgebaut. Hinzu kamen Einfamilienhäuser und Infrastruktur. Das hört sich gewaltig an – doch noch immer ist ein unglaublich großes Gelände mit verwilderten Parkanlagen und Baumbeständen, mit unzähligen Gebäuden in teilweise zerfallenem Zustand vorhanden. Die Häuser laden mit geöffneten Türen zum Erkunden ein. Wünsdorf ist j.w.d. [1] und mit Mauern und Zäunen gesichert und somit gut vor Vandalismus und Vermüllung verschont geblieben. Fenster haben tatsächlich noch Glas in ihren Rahmen. Lange Flure eröffnen reizvolle Perspektiven. Noch sind Spuren der letzten Bewohner vereinzelt zu finden. Kyrillische Schriftzeichen, russische Wattejacken, Notenblätter und Zeitungen, die an Wänden kleben.

go2know

In bemerkenswert gutem Zustand ist das winkelig angelegte Offiziersgebäude mit einem großen, voll bestuhlten Theatersaal. Dunkelrote Plüschbezüge laden zur Rast ein. Für Besichtigungen wird die nach wie vor vorhandene Beleuchtung eingeschaltet. Im Schwimmbecken ohne Wasser hängen weiterhin die Begrenzungen der Bahnen. Das Innere des Gebäudes ist ein Gemisch aus Historie und mehr oder weniger passenden modernen Ergänzungen. Große Bild-Tafeln im Foyer werben für eine Zukunft. Aber die Dekoration ist verdorrt und verstaubt. Die Farben der Fotos sind längst verblichen.

Nach einer ausgiebigen und spannenden Erkundung machen wir uns auf den Weg zurück zum „Basispunkt“. Stühle, ein Tisch, Getränke und Becher stehen bereit. Hier bekommt jeder die Gelegenheit, sich während der fünfstündigen Expedition eine Pause zu gönnen und/oder Fragen zu stellen. Und wir haben so einige Fragen an Thilo Wiebers. Der Mann vom Sicherheitsdienst gesellt sich zu uns. Im lockeren Disput mit Lachen und nostalgischem Schwelgen in Erinnerungen können wir viel Interessantes in Erfahrung bringen.

Das Projekt wurde nicht von blauäugigen Träumern in Leben gerufen. Die beiden „Macher“ sind vielleicht etwas unbürgerlicher als Andere, mit mehr Mut, Träume zu verwirklichen, aber sie stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität. Alle notwenigen Versicherungen liegen vor. Die angestellten Führer sind gut eingewiesen und ordentlich bezahlt. Alle Touren sind optimal vorbereitet.

Entstanden aus einer Begeisterung für diese sogenannten „Lost Places“, die dem langsamen Verfall und dem Vergessen ausgesetzt sind. Bilder sollen Geschichte, vergangenes Leben festhalten. Diese Leidenschaft teilen sie mit Vielen. Daraus entwickelte sich die Idee. Diesen Interessierten einen sicheren und stressfreien Besuch leerstehender Objekte zu ermöglichen. 2011 wurde aus dieser Idee Realität.

Das Projekt ist ein Unternehmen, welches sieben Tage die Woche in Anspruch nimmt. Gibt es hierbei noch ein Privatleben? Unter der Woche ist hauptsächlich Organisatorisches abzuarbeiten. Die Touren am Wochenende – und manchmal auch freitags in Berlin – werden durchaus als Privatleben empfunden. Nette Menschen, Ruhe, interessante Gespräche. Beruf als Berufung.

Wann keimte diese Lust am Entdecken? Aus einem eher profanen Anlass – jugendlichem Übermut – heraus. Als die Schule, die Thilo, sein jüngerer Bruder und Andreas besuchten, vor einigen Jahren abgerissen werden sollte, wurde der Ort ehemaliger „Schandtaten“ aufgesucht. Die erste Erkundung in einem Abriss-Gebäude ohne Außenwände. Auf seltsame Weise faszinierend.

Eigentümer der Objekte sind teils Kommunen und Treuhänder, teils Privatpersonen. Erstgenannte begegnen Anfragen von go2know recht positiv. Schwierig sind die Verhandlungen mit Privateigentümer. Geduld ist hier gefragt. Meist fällt die erste Reaktion folgendermaßen aus: „Kommt in einem Jahr wieder, dann haben wir renoviert.“ Doch nach eingehenden Erklärungen kommt man auch hier oft zum gewünschten Ziel, der Anmietung des Objekts für die Dauer der Touren.

Störend sind Denkmalschutzauflagen – vor allem für Investoren, die solche Gebäude retten könnten. Grundsätzlich ist es sicherlich wünschenswert, vieles für die Nachwelt zu erhalten, doch manche dieser Auflagen sind nicht nachvollziehbar und verursachen ungläubiges Kopfschütteln: Die Erhaltung eines von russischen Soldaten an die Wand geworfenen Putzes beispielsweise.

Durch die Verträge mit Eigentümern oder der Öffentlichen Hand fließen häufig Gelder in die Sicherung und den Erhalt der Gebäude. So kommen diese Touren auch den Bauwerken zugute.

Die Anforderungen an die Sicherheit sind hoch. Bevor Besucher ein Gelände mit teilweise einsturzgefährdeten Objekten erkunden können, überprüfen Experten die Begehbarkeit der Bauwerke. Protokolle werden geführt. Wenn notwendig, werden Gebäude für Besucher gesperrt. Mögliche Gefahrenstellen sind auch Schächte, die ihrer Abdeckungen durch Schrottdiebe beraubt wurden. Nach jedem Winter, wenn die Schneelasten von den Dächern gerutscht sind, wird erneut der bauliche Zustand überprüft. So konnten bisher jegliche Unfälle vermieden werden.

go2know

Voraussetzung für solche „Abenteuer“ ist eine angemessene Kleidung und solides Schuhwerk. Flip-Flops kamen schon vor – durften aber nicht „mitspielen“. Kinder müssen ein Mindestalter von 12 Jahren erreicht haben und dafür auch dann nur in Begleitung der Eltern die „Lost Places“ erforschen. Doch ist dies eher die Seltenheit, erscheinen den meisten Kindern solche Ausflüge ziemlich langweilig. So organisieren „go2know“ vorab – je nach Möglichkeit des zu besuchenden Objekts – für die Kindern und einen Elternteil alternative Möglichkeiten. Wie beispielsweise den Besuch einer Therme, die sich in der Nähe der Heilstätte Hohenlychen befindet.

Nicht nur Fotografen interessieren sich für diese „Lost Places“, um die spannenden Ansichten zerfallender Gebäude für die Ewigkeit zu bannen. Es locken abenteuerliche Spaziergänge in teils weitläufigen verwilderten Landschaften, Wäldern und Wiesen oder ahnungsweise sichtbaren ehemaligen Gärten und Parkanlagen. Botanische Schatzsucher haben hier ihre helle Freude. Nachdenkliche finden hier Futter – die Natur hat das Kommando übernommen und erfindet verwunschene Märchenkulissen. Beharrlich erobert sie die Reste menschlicher Bauwerke und Anlagen. Weite Flächen des Wünsdorfer Kasernen- und Übungsgeländes sind mit einem dicken, sehr weichen Moosteppich begrünt. Darunter verborgen: blanker Beton. Die Natur ist zurück.

So gibt es Besucher, die eine Tour für ein Picknick oder für etwas aus der Reihe fallende Hochzeitsfotoaufnahmen nutzen. Wo es sich anbietet, kann auch eine Grillparty veranstaltet werden. Vieles ist möglich. Große Gelände mit viel Baumbestand sind für Pilzsammler im Herbst reizvoll.

Während unseres Besuchs in Wünsdorf zogen große Keile von Kranichen über unsere Köpfe hinweg. Gerade so sichtbar durch das Geflecht der Äste großer Bäume. Aber hörbar waren sie allemal. Das passte perfekt in diese Mischung aus Natur und weitläufig verteilter Bebauung.

Um diese verlassenen Gebäude und Orte spinnt sich viel Geschichte. Und manchmal ergeben sich überraschende Erkenntnisse. In Wünsdorf wurde 1915 die erste Moschee in Deutschland eingeweiht. Den muslimischen Kriegsgefangenen sollte die Möglichkeit zur Religionsausübung geboten werden.

Ein anderes Ausflugsziel, der Spreepark Berlin (ehemals Kulturpark), liefert so manchen Stoff für Anekdoten. Hier passierte der bisher einzige „Unfall“: Ein Tagesbesucher aus Kanada platschte in den Schwanenteich auf dem Spreeparkgelände. Merke: verwechsle niemals Wasserlinsengewächse mit Moos!

Ein Botaniker entdeckte hier Kreuzungen – also neue Arten – von den ehemals dort eingebrachten Kulturpflanzen mit echten Wildpflanzen. Eine seltsame große exotische Blüte hat sich angepasst und öffnet für kurze Zeit in der Nacht ihre Blüte und bietet sich den einheimischen „Bestäubern“ an.

Fledermäuse haben sich häuslich eingerichtet. Fünf Arten. Dabei sind in Berlin eigentlich nur drei Arten beheimatet.

Das Riesenrad steht noch immer – mit der Muskelkraft dreier Männer lässt es sich bewegen. Es braucht nicht viel Energie, um das Ding in Gang zu setzen. Einem Zeitungsreporter wurde dies vorgeführt. Ob es stimmt, dass Massen von potentiellen Kulturparkbesuchern heranströmten? Egal. Der Kulturpark war ein sehr beliebter Vergnügungsort.

Die Agonie dieses Ortes lockt immer irgendwelche Abenteurer. Jugendliche hatten eines der Schwanenboote auf die Spree herausgewuchtet. Letztendlich wurde der Schwan vor dem Bundeskanzleramt entdeckt und der Ausreißer kam wieder nach Hause. Oder eine ältere Dame (sie erinnerte sich wohl an die Glanzzeiten), die es sich in einer Gondel des Riesenrades zu bequem machte. Den Morgen konnte sie von weit oben begrüßen. Erst der Wachmann rettete sie aus der misslichen Lage. Das Riesenrad ist nicht arretiert, um dem Wind standzuhalten. So ist das Rad immer in leichter Bewegung. Wer also seinen Fotorucksack in der untersten Gondel abstellt, darf sich eventuell auf eine Überraschung einstellen.

Für die Zukunft haben Thilo und Andreas spannende Pläne. Tschernobyl und Baikonur beispielsweise sollen nach entsprechender Vorbereitung als Ziele zur Verfügung stehen. Erste Kontakte wurden bereits geknüpft und den Behörden (aktuell Bundesamt für Strahlenschutz) liegen Anfragen zu bestimmten Problemen vor.

Ebenso soll die Liste der Lost Places durch Objekte in Belgien und Polen erweitert werden. Noch wird ein Konzept erarbeitet. Eine interessante Angelegenheit, die sicher viel Zuspruch erhalten dürfte. Aber auch in Deutschland gibt es noch eine ganze Menge zu entdecken. So ist das Angebot einem Wandel unterzogen. Nicht jedes Objekt wird auch auf Dauer zugänglich sein.

Offizielle Touren für den motivsuchenden Fotografen, den abenteuerlustigen Erkundern, den Freizeitgestaltern. Nebenbei nutzen sie dem Erhalt dieser Gebäude. Und für Thilo Wiebers und Andreas Böttger bedeuten sie Leidenschaft und Lebensinhalt.

Text: Edith Oxenbauer
Fotos: Marcus Rietzsch
Februar 2014


[1] berlinisch: janz weit draußen – ganz weit draußen

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